2
Jan
2008

Von der Kunst dennoch zu lachen

2. Januar 2008. Heute fand in meiner Familie wieder dieses alljährliche Kaffeetrinken statt. Jedes Jahr treffen wir uns an diesem Tag, obwohl wir uns gerade erst an Weihnachten genossen haben und eigentlich langsam überdrüssig werden.
Der 2. Januar ist der Geburtstag meines jüngeren Bruders. 25 Jahre ist er heute geworden. "Was wohl aus ihm geworden wäre, wenn ... ?" fragte mich der Mann an meiner Seite, tja, dieses "wenn". Mein Bruder ist von klein auf geistig und körperlich schwerst behindert. Er kann nicht sprechen, sich in keiner Form selber versorgen, ist immer auf die Hilfe anderer angewiesen. Seit August letzten Jahres lebt er in einem Heim. Schweren Herzens haben ihn meine Eltern dorthin gebracht. Das Loslassen hat besonders meiner Mutter viele Tränen abverlangt. Und auch mir war damals ganz schwer ums Herz, als sie mich mitnahmen um das Heim zu "inspizieren". Es ist ein ganz normales Wohnheim. Auf 15 Behinderte kommen zwei Betreuer. Kein besonders toller, leider gängiger Betreuungschlüssel in Deutschland. Mein Bruder kommt eigentlich nie vor die Tür. Es hat ja auch keiner Zeit ihn zu begleiten. So sind die Besuche daheim für ihn echte Highlights in seinem sonst tristen Leben.

Geburtstag. Also an diesem Geburtstag passiert eigentlich immer das Gleiche. Meine Schwester und ich kommen mit unseren Kindern eingetrudelt, sechs sind es mittlerweile. Meine Mutter tischt Massen an Kuchen auf, in der Hoffnung das ihre Enkelkinder irgendetwas davon schmeckt. Im Endeffekt halten diese sich dann doch an Kinderschokolade fest.
Mein Bruder bekommt von uns immer einen Katalog und Gummibärchen geschenkt. Mir kam es früher immer so herzlos vor: Altpapier und etwas zum Naschen. Aber er liebt Kataloge heiß und innig, genau wie Fernsehzeitschriften (egal aus welcher Woche) und Autozeitungen. Aber das Größte sind für ihn diese dicken Wälzer der Versandhäuser. Also bewahre ich sie ihm auf und erfülle ihm damit einen Herzenswunsch. Dieses Jahr kaufte mein Mann ihm noch eine Autozeitung, die wir ihm mit dem Katalog in Geschenkpapier packten.

Zur Kaffeetafel lässt der junge Mann sich bitten. Selten sitzt er von Anfang an dabei, meistens liegt er auf dem Boden, weil es ihm liegend auf Grund seiner Skulliose am besten geht. Irgendwann gesellt er sich dann doch zu uns und lässt sich von meiner Mutter und meinem Vater füttern, denn allein kann er nicht essen. Er sitzt am Tisch, legt seinen Kopf schief und grinst einmal schelmisch in die Runde. Danach grapscht er die Hand seines Sitznachbarn und lässt sich am Kopf kraulen. In diesem Jahr saß ich neben ihm und somit durfte ich die ganze Zeit durch seine kurzen Stoppelhaare wuscheln. Ich denke jedem ist es lästig, so neben ihm zu sitzen, schließlich will man sich eigentlich unterhalten. Aber - hey - das ist sein Weg, ein wenig Zuwendung zu ergattern - und heute ist sein Geburtstag.

Wir saßen vielleicht ein halbe Stunde gemeinsam am Tisch, da zieht er am Arm von meinem Vater und bettelt "Auwa". Es ist eins der drei Wörter die man aus seinem Munde verstehen kann. Die anderen zwei sind "Mama" und "Papa". "Ich bin mit dir doch extra vorhin noch eine Runde Auto gefahren!" entgegnet mein Vater und seufzt innerlich. Mein Vater fährt viele, viele Touren durch die nähere und weitere Umgebung für meinen Bruder. Er ist ja eigentlich der Meinung er müsse sein Spritgeld von der Steuer absetzen können, als Pflegegeld für meinen Bruder. "Jetzt noch nicht, nachher fahren wir noch einmal Auto", macht er ihm Hoffnung und für einen Moment lässt, sein permanentes Betteln nach. Die Kinder indes krabbeln zu unseren Füßen herum und spielen verstecken.

Mein Bruder setzt sich mit meiner Mutter auf die Couch und schläft an ihrer Schulter ein. Wir können eine halbe Stunde entspannt reden, weil mein Vater mit den Kleinen die letzten übriggebliebenen Silvesterkracher zündet. Ich denke oft, dass meine Vater mit seinen Enkeln das nachholt, wozu er mit uns keine Zeit hatte. Rumtoben und ein bisschen Unsinn machen.
"Papa geht's nicht so gut." erzählt meine Mutter unvermittelt. "Seine Herzrhythmus-Störungen machen ihm mehr zu schaffen, als er zugibt." "Davon hat er nie etwas erzählt!" bin ich entsetzt. Mein Vater war immer stark, nie wirklich krank und wenn riss er sich zusammen, nur um seinen Kindern zu helfen. "Doch, sie machen ihm Angst."
Mir wird es total schwer ums Herz. Meine Eltern waren immer die Starken, nichts hat sie umgehauen und nun wird mir mit einem Mal bewusst, dass auch dem Leben meines Vaters irgendwann einmal ein Ende gesetzt sein wird. Ich mag den Gedanken nicht weiter denken.
Als ich die Möglichkeit habe meinen Vater alleine zu reden, spreche ich ihn darauf an. Er wirkt wirklich unsicher, ist aber schon in ärztlicher Behandlung.

Als meine Schwester und ich mit der Kinderschar nach Hause aufbrechen, stehen wir im Flur, mein Bruder drängelt sich mit seinem Rollstuhl dazwischen und will nach draußen. "Gleich, gleich," beschwichtigt meine Mutter ihn und schaut wieder bekümmert aus. Sie will uns herzlich verabschieden, bedankt sich noch einmal für unser Kommen und die Geschenke. "Über den Katalog und die Zeitung hat er sich sehr gefreut. " "Mmmmh," nicke ich, "die hat xxx für ihn gekauft, obwohl - er war der Meinung, dass unser Bruderherz sich wahrscheinlich über den Playboy viel mehr gefreut hätte."
Wir müssen herzhaft lachen.
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