19
Mai
2006

Am Ende

Ich kann nur hoffen, dass am Ende meines Lebens einer bei mir ist, der den längeren Atem hat.

Heute habe ich meinen todkranken Opa besucht. Er hat Lungenkrebs. Nie hat er in seinem Leben geraucht. Den Krebs bekam er vollkommen unverschuldet. Aber jetzt nimmt ihm diese entsetzliche Krankheit die Kraft zum Leben.
Ich bewundere diesen Mann. Lange, wirklich lange hat er seinen Humor behalten. Gelacht, Scherze gemacht als es für ihn selber eigentlich schon gar nichts mehr zum Lachen gab. Nun sitzt er in seinem Sessel, hustet und spuckt, kann seit Monaten nicht mehr vor die Tür und ist auf die Hilfe von anderen angewiesen. Er jammert nicht. Nein. Kein Wort des Leides kommt über seine Lippen. Er weiß, dass sein Weg noch beschwerlich ist, und das Wichtigste scheint mir für ihn im Moment zu sein, dass da jemand ist, der ihm zuhört. Er will erzählen, will erzählen aus seinem Leben. Immer wieder wird er durch Husten unterbrochen, aber da ist noch Leben in ihm. Das will gehört werden. Er braucht Leute, die ihm zu hören.
Wenn Menschen so lange krank sind wie er, benötigen sie Freunde, Familie, die den längeren Atem haben und ihre Kraft dem Weggehenden schenken. Mich stimmt es nachdenklich. Ich habe keine engen Freunde, von denen ich mir vorstellen kann, dass sie so einen langen Weg mit mir gehen würden. Aber ich weiß, dass sie notwendig sind, vielleicht sogar lebensnotwendig.
Heute bin ich traurig. Es tut so weh zu sehen, wie diese Kraft in diesem starken Menschen schwindet und wie er sich Gesellschaft wünscht. Meine Großeltern sind beide immer sehr bemüht gewesen, haben sich um ihre Mitmenschen gekümmert, nun, am Ende ihres Lebens, wo ihre eigene Kraft schwindet, schwinden auch die Menschen um sie herum, denn es braucht Mut dem Tod ins Auge zu sehen. Mein Opa lehrt mich diesen Mut. Und heute wünsche ich ihm noch ganz viele Ohren, die ihm zuhören, damit das Leben in ihm nicht ungehört verstummt.
Ich wünsche ihm Menschen an die Seite, die den längeren Atem haben und ihm ihren Atem zu schenken.

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chaot35 (Gast) - 20. Mai, 00:37

ich reduziere meinen kommentar mal auf deinen eingangssatz.
ja.
alles weitere würde hier zu weit führen und gehört nicht hier hin.
wenn du rat brauchst. hospiz etc. mail mich an.

LG

momente - 20. Mai, 11:57

Danke.
chaot35 (Gast) - 20. Mai, 12:01

nix zu danken:-)
MephistoBS - 20. Mai, 11:14

... nun, am Ende ihres Lebens, wo ihre eigene Kraft schwindet, schwinden auch die Menschen um sie herum, denn es braucht Mut dem Tod ins Auge zu sehen.

Ich glaube, dass ist das eine. Der Anblick eines Menschen, der sich sichtbar am Ende seines Weges befindet macht deutlich, dass das Leben ein Ende hat. Menschen verdrängen gerne, vor allem auch den Tod.

Ein anderer Aspekt ist, dass wir in einer zunehmend egoistischen Welt leben, in der immer mehr nur noch darauf achten, sich "selbst zu verwirklichen" - was immer das ist. Da ist wenig Zeit für andere, sofern die anderen nicht benötigt werden oder andersweitig eine Freude bereiten. Sterbende und pflegebedürftige Menschen haben da wenig Platz. Ich möchte hier gar nicht als der erhabende verstanden werden, der auf andere zeigt. Ich bin mir keineswegs sicher, ob ich im Falle eines Falles anders reagieren würde.

momente - 20. Mai, 12:00

Das Schlimme ist, finde ich, dass wir die Schwachen auch leicht ignorieren können. Die Augen offen halten und zu ihnen hingehen, weil sie selber nicht mehr können, das bedeutet schon ein ganz besonderes Engagement.
So sehr ich meine Großeltern mag, auch mir fällt es schwer, anzurufen, sie zu besuchen, - aber im Moment vor allem, weil ich Angst habe diesen körperlichen Zerfall zu sehen und das Gebrechliche in ihren Stimmen zu hören.
Und dennoch weiß ich, dass sie genau diese Nähe zu anderen jetzt brauchen.
Bina79 (Gast) - 20. Mai, 11:33

Ich wünsche deinem Opa noch viele Ohren, die den Mut haben genau hinzuhören.
Und dir liebe Menschen, die dir die Kraft geben, genau das für ihn zu tun.

Die Kraft bei einem geliebten Menschen schwinden zu sehen, konfrontiert mit der eigenen Sterblichkeit und macht ganz natürlich Angst diesen Menschen zu verlieren. Insofern kann ich verstehen, dass einige nicht da sein können und hinhören. Und ich bewundere alle, die es können.
Leben ist eben bis zum Schluss. :-)

momente - 20. Mai, 11:56

Danke dir liebe Bina,

ich weiß, dass es Angst macht und auch ich fürchte mich ein wenig vor dem, was uns als Familie in den nächsten Monaten noch erwartet.
Ich denke, was mir vor allem neu wichtig geworden ist, ist das am Ende deines Lebens die Beziehungen zählen. Es geht nicht mehr um das eigene Haus, das Einkommen, die materiellen Dinge, um die wir bzw. ich die ganze Zeit besorgt sind. Es sind die Menschen, die liebevollen Freunde und deine Familie, die dich aus dem Leben hinaus begleiten.
Bina79 (Gast) - 20. Mai, 12:32

Genauso ist es!
Wir verlieren viel zu oft den Menschen aus den Augen. Bei den vielen Dingen, mit denen wir uns umgeben.
Schwierige Phasen machen mich aber auch dankbar. Dankbar, dass ich Anteil nehmen darf und schon so viel schönes bereits erlebt zu haben. Ich gebe zu, diese Einstellung findet man nicht in dem Moment selbst, sondern erst im Nachhinein.
Taylors Vintage - 20. Mai, 16:18

Du schreibst, dass du keine engen Freunde hast von denen du dir vorstellen kannst, dass sie dich auf so einem Weg begleiten würden.

Doch vielleicht wird es ein Mensch sein, von dem du es nie annimmst. In solchen Momenten werden die Menschen oft enttarnt. Es braucht starke Menschen, den zu sehen wie jemand von uns geht ist nicht leicht. Es trifft uns dort wo es weh tut, in unserem Innersten. Und die Stärke dies auszuhalten ist nicht jedem gegeben. Besonders wenn man jemanden gern hat. Etwas von einem geht immer auch mit und die Erinnerung kann zur Last werden. Am Anfang.

Keiner stirbt allein. Jemand wird immer da sein un einem die Hand halten. Vielleicht ist es nicht der beste Freund, aber es wird immer jemand sein der etwas fühlt. Und dessen Herz in diesem Moment nur bei einem sein will.

Ich wünsche Dir viel Kraft. Es ist nicht leicht.

momente - 20. Mai, 17:40

Danke.

Ja, schwierige Zeiten enttarnen, wer wirklich Freund ist. Dem kann ich nur zustimmen.
Ob jemand bei meinem letzten Atemzug da ist, das weiß ich nicht. Soll mich im Moment auch nicht weiter belasten.
Aber den eigenen Tod ins Blickfeld zu rücken, macht nachdenklich darüber, was uns eigentlich wichtig ist im Leben.
Und gute feste Beziehungen sind an dieser Stelle von unmeßbaren Wert.
lemonendres - 20. Mai, 21:28

ich fühle mit dir und wünsche dir und deinem opa viel kraft.

momente - 20. Mai, 22:29

Danke dir.
Hank (Gast) - 21. Mai, 23:15

Verdammt Traurig...
Es handelt sich um eine Welt in der die Einstellung "What have you done for me lately" herrscht. Es war nie anders, es ist nur schlimmer geworden. Was du deinen Kindern gegeben hast, was du für die getan hast die deine Hilfe benötigten, zählt in dem Moment nicht mehr wenn du das alles nicht mehr geben kannst oder womöglich sogar deren Hilfe brauchst. Die älteren und bedürftigen müssten eine lange Geschichte zu erzählen haben, darüber wie sie nach und nach ins Abseits geschoben wurden, wie sie nicht mehr gehört, beachtet und irgendwann sogar verachtet wurden.. was hätte ich von jemanden der einen längeren Atem hat, mir aber das Gefühl der Wertlosigkeit gibt? Dann lieber jemand der mit mir stirbt aber bis zum schluss an meiner Seite ist..

Die Sache mit deinen Opa tut mir unendlich leid meine liebe...

momente - 22. Mai, 16:48

Alte Menschen wertschätzen, ihnen Achtung entgegenbringen - dieses Mitgefühl für Senioren, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, weil sie nicht mehr Leistung bringen können, hat abgenommen; das glaube ich auch. Aber es liegt an uns, wir können etwas daran ändern.
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